Kern: Grün-Rot nimmt beim Ausbau der Ganztagsschulen auf Wahlfreiheit keine Rücksicht
In einer Landtagsdebatte über den Ausbau der Ganztagsbetreuung an den Grundschulen sagte der bildungspolitische Sprecher der FDP-Landtagsfraktion, Dr. Timm Kern:
„Im vorliegenden Gesetzentwurf ist viel von ‚Wahlfreiheit‘ und von ‚Wahlform‘ die Rede. Damit streut Grün-Rot den Menschen in Baden-Württemberg wieder einmal Sand in die Augen. Denn was Grün-Rot in diesem Gesetzentwurf Wahlfreiheit nennt, das nennen Liberale die Wahl zwischen Skylla und Charybdis. Im Zentrum des Gesetzentwurfs steht nämlich die verpflichtende, rhythmisierte Ganztagsschule. Es mag Schüler geben, für die die verpflichtende rhythmisierte Ganztagsschule die geeignete Schulform ist. Allerdings bedeutet verpflichtende, rhythmisierte Ganztagsschule auch, dass ein Schüler nicht vormittags den Unterricht besuchen kann und nachmittags entweder ein freiwilliges Angebot der Schule besucht oder eben auch frei hat. Das könnten die Schüler nur in der offenen Ganztagsschule, die eben im liberalen Gesetzentwurf zur Ganztagsschule im Zentrum stand. Die FDP-Landtagsfraktion hatte vorgeschlagen, dass alle Schulen – nicht nur die Grundschulen – das Recht bekommen, ohne Zustimmungsvorbehalt der Schulverwaltung offene Ganztagsschule zu werden.
Das ist eben der Unterschied zwischen Ihnen und uns: Im liberalen Gesetzentwurf hätte der Grundsatz gegolten ‚Im Zweifel für die Freiheit‘ – bei Ihnen gilt heute der Grundsatz: ‚Im Zweifel für die Pflicht‘. So hat die grün-rote Landesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt, in dem die offene Form der Ganztagsschule nicht mehr stattfindet.
Was im grün-roten Gesetzentwurf als „Wahlform“ bezeichnet wird, ist schlicht Rosstäuscherei. Sie wollen die Menschen glauben lassen, die Wahlform und die offene Form seien mehr oder weniger das Gleiche, denn künftig habe man bei der Wahlform die Wahlmöglichkeit zwischen Halbtag und Ganztag. Und das einzelne Kind hätte ebenfalls die freie Wahlmöglichkeit – jeweils zum neuen Schuljahr sei der Wechsel vom Ganztags- in den Halbtagszug oder umgekehrt möglich.
Was Grün-Rot aber verschweigt, ist, dass das Kind dann auch gleich die Klasse wechseln muss – denn anders als bei der offenen Form lässt die Rhythmisierung nicht zu, dass der Schüler nur vormittags den Unterricht besucht und nachmittags einer anderen Beschäftigung nachgeht.
„Ganz oder gar nicht Ganztag“ – das ist das grün-rote Verständnis von Wahlfreiheit. Gemeinsam mit der CDU-Fraktion beantragt die FDP-Landtagsfraktion deshalb, statt der unechten Wahlform die bereits vielerorts praktizierte offene Ganztagsschule ins Schulgesetz aufzunehmen.
Und ähnlich wie die Eltern stehen auch Schulen und Schulträger vor einer unechten Wahlfreiheit. Denn dass sich Grüne und SPD für den Grundsatz „Im Zweifel für die Pflicht“ entschieden haben, macht die Ausgestaltung des Ganztagsschulprogramms deutlich. Rhythmisierung ist immer vorgeschrieben, auch dann, wenn sich Schule und Schulträger für eine Ganztagsschule mit drei Nachmittagen à sieben Zeitstunden entscheiden. Dafür gibt es dann aber nur sechs Lehrerwochenstunden.
Für vier Nachmittage à acht Zeitstunden gibt es 12 Lehrerwochenstunden. Schon allein aufgrund dieser Anreizstrukturen werden sich die meisten für vier Nachmittage und acht Zeitstunden entscheiden – ein Modell drei Nachmittage verpflichtend und zusätzlich einer mit freiwilligen Angeboten scheidet durch die von Grün-Rot geschaffenen Fakten im Grunde genommen aus.
Zugegeben: Im liberalen Gesetzentwurf sind die vorgeschlagenen Sätze für Lehrerwochenstunden niedriger. Das hatte aber einen guten Grund, denn wir hätten es gerne auch den weiterführenden Schulen ermöglicht, Ganztagsschule zu werden. Und wir hätten der offenen Ganztagsschule vier Stunden zugewiesen – sie erhält bei Grün-Rot nichts. Dabei wäre gerade die offene Form ideal für kleinere Kommunen, bei der der Weg zur nächsten Grundschule weit ist. Wenn dann aber eine Mehrheit der Eltern im grün-roten Modell für die Ganztagsschule votiert, so hat eine Minderheit der Eltern keine Alternative für eine Halbtagsschule vor Ort. Und das, obwohl das Prinzip „Kurze Beine – kurze Wege“ im Grundschulbereich eigentlich Konsens sein sollte.
Würde man dagegen dem liberalen Ganztagsschul-Modell den Vorzug geben und die Ausgestaltung der Ganztagsschule konsequent den Verantwortlichen vor Ort überlassen, so könnten diese ihr Ganztagsangebot so gestalten, dass den unterschiedlichen Elternwünschen und -bedürfnissen auch wirklich Rechnung getragen wird.
Wäre Ihnen von Grün-Rot wenigstens in den Gemeinden mit mehreren Grundschulen an echter Wahlfreiheit gelegen, dann würden Sie konsequenter Weise die Schulbezirke abschaffen. Denn sonst kann es nun passieren, dass die Grundschule im Schulbezirk eine Halbtagsschule bleiben will, die Eltern aber eine Ganztagsschule wünschen – aber nicht wählen können, da sie die Schulbezirksgrenzen nicht überschreiten können.
Und wenn Sie sich nun schwertun, einem FDP-Argument, obwohl wie immer einleuchtend, zu folgen, dann folgen Sie wenigstens den Praktikern, dem Verband Bildung und Erziehung (VBE) oder auch Südwestmetall für die Arbeitgeber. Sie haben Grün-Rot den Verzicht auf die Schulbezirke in ihren Stellungnahmen dringend angeraten.
Ein bekanntes afrikanisches Sprichwort lautet: ‚Um ein Kind großzuziehen, braucht man ein ganzes Dorf‘. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass nicht ein einzelner oder eine einzelne Einrichtung umfassende Bildung vermitteln kann, sondern dass Persönlichkeitsbildung auf das gesellschaftliche Umfeld angewiesen ist. Die Ganztagsschule ist für die Vereine und Verbände keine leichte Aufgabe.
Mit ihrem einseitigen Beharren auf der rhythmisierten verpflichtenden Ganztagsschule raubt Grün-Rot den Vereinen und Verbänden zahlreiche Chancen der Mitwirkung am Ganztag. Wie der Begriff „Rhythmus“ schon vermuten lässt, besteht die Gefahr, dass vieles dem Takt der Schule unterworfen wird und dabei unter die Räder gerät.
Das gilt für den Musik- oder Sportverein, der sich schwertut, vormittags einen Ehrenamtlichen zu finden, das gilt aber auch für die kirchliche Jugendarbeit, deren Gesetzmäßigkeiten sich denen von Schule entziehen. Ganztagsschule darf nicht zum Verdrängungsprogramm für Vereine werden, sondern muss, wenn sie nicht zur staatlichen Einheitsanstalt werden soll, offen sein und mit der sie umgebenden Gesellschaft zusammenarbeiten. Die Kooperationsvereinbarung mit den Verbänden ist dafür eine wichtige Voraussetzung. Aber nicht einmal das hat Grün-Rot ohne folgenreiche handwerkliche Fehler hinbekommen, sondern mit zwei getrennten Vereinbarungen unterschiedlicher Verbindlichkeit in Baden-Württemberg Verbände erster und zweiter Klasse geschaffen. Gerne würde ich Sie noch gerne an ein Zitat von Hannah Arendt erinnern: ‚Der Sinn von Politik ist Freiheit‘.“